Ich stelle mir oft vor, wie mein Großvater am 13. Februar 1945 in Akko auf den Steinen des alten Hafens sitzt und in Richtung Westen schaut. Hinter ihm der Lärm der Stadt und der breite Buckel einer großen Geschichte, die er kartographiert und selbst mit ausgräbt. Percy hieß er, Percy Harold Winter. Er war Architekt und Städteplaner, vielleicht noch mehr, doch das wissen die Archive. In Jerusalem vollendete er in der Jaffa Street 1938 das General Post Office. Ein Foto bei der offiziellen Eröffnung zeigt ihn, wie er im Hintergrund an der Eingangstür steht und einen hochrangigen britischen Regierungsbeamten beobachtet, der gleich zum Telefonhörer greifen wird und feierliche Worte in seine Heimat spricht. Den Staat Israel gab es noch nicht, dafür die britische Mandatsregierung in Palästina, für die Percy im Public Works Department tätig war. In meiner Vorstellung ist der Himmel bedeckt und das Meer ruhig, in Dresden ist für diesen Tag Regen angesagt. Dort wohnte meine Oma mit ihrem Sohn, meinem Vater. Und Percy war der Vater meines Vaters.
In einer kleinen Holzkiste bewahrte meine Oma ihre private Korrespondenz auf, darunter einige Briefe aus älterer Zeit, einige Fotos in Sepia, ein englischsprachiger Zeitungsartikel, ein kurzes Antwortschreiben des Roten Kreuzes. Die Briefe sind englischsprachig, meist von meinem Grossvater an meine Oma, die Fotos zeigen beide verliebt zwischen Palmen und Orangenhainen, ein Porträt ist dabei. Der Artikel berichtet, wie meine Oma als „Fraulein Dorothea Sturm“ von der deutschen Nazipolizei an ihrer Weiterreise per Schiff nach England gehindert wurde. Aus dem Schreiben eines Hamburger Anwalts, das ich ebenfalls in der Kiste gefunden habe, geht hervor, dass man sie bezichtigte gegen die „Nürnberger Rassengesetze“ verstossen zu haben, auch von Spionage war die Rede. Jemand hatte sie denunziert.
Meine Oma stammte aus Dresden und arbeitete als Nanny in einer Londoner Familie. Die Pope´s, so hießen sie, waren leidenschaftliche Verreiser, ob auf der Insel oder ausserhalb. Man besuchte gern Angehörige und Freunde und meine Oma war wegen der Popeschen Kinder immer dabei. Ein Ziel war Palästina, wo ein enger Freund von Mr. Pope lebte und das war besagter Percy Harold Winter.
Der Artikel im Daily Telegraph erschien 1935, mein Vater kam zwei Jahre später in Deutschland auf die Welt und die wiederum begann zwei Jahre später durch den Krieg zu zerbrechen. Der Kontakt zwischen Percy und Dorothea endete für immer. Sie suchte ihn, aber fand ihn nicht mehr. Erst durch das Rote Kreuz, später selbst bei einer Reise nach England.
Vor knapp fünfzehn Jahren begann ich mit der Suche nach ihm und seine Spuren fanden sich im Internet. Wo er zuletzt lebte und wann er starb war schnell zu finden. Ich besuchte den Ort, er ist in Kent, in Chiddingstone Hoath und seine Nachbarin Penny, mittlerweile eine gute Freundin unserer Familie, erinnert sich noch an ihn. Sie meinte einmal, wer nicht gefunden werden wolle, der zieht ans Ende ihrer Oakenden Lane, in Keepers Cottage gleich neben ihrem Haus. Und sie sprach darüber, dass dieses Cottage mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Bezug zum britischen Geheimdienst hatte.
P. H. Winter reiste viel in jener Zeit, mit Bahn und Schiff, von London ins Heilige Land und zurück. 1938 trafen sich beide in Prag, sie kam von Dresden, er von London, um Deutschland machte er einen Bogen. Seine Briefe sind fürsorglich und voller Wärme, gespickt aber auch mit politischen Betrachtungen, so über die angespannte Situation im britischen Mandatsbereich. Den Unterhalt für sie und meinen Vater schickte er an eine Freundin meiner Oma, die lebte im österreichischen Schruns mit einer Hakenkreuzfahne im Vorgarten.
Als ich Penny erstmals in der Oakenden Lane besuchte, hatte ich einen vereinbarten Termin auf dem Friedhof von Tunbridge Wells. Man wollte mir das Sterberegister öffnen und den Ort zeigen, wo man die Asche meines Grossvaters einst verstreut hatte. Es regnete heftig an diesem Tag und sonderbar waren die folgenden Ereignisse. Mit dem Zug war ich unterwegs dorthin und spürte in einem Moment, dass ich wie durch fremde Augen auf die Gleise schaute, sie waren mir bekannt mit einem Male. Und am Bahnhof von Tunbridge Wells kam es zu einer weiteren Seltsamkeit. Eigentlich wollte ich zu Fuss zum Friedhof gehen, doch es war zu nass von oben und zu lang der Weg dorthin. So stoppte ich in einem Coffee Shop gleich gegenüber, genoss einen starken Kaffee und hoffte auf Wetterbesserung. Schliesslich öffnete ich die Tür und wollte los, doch etwas hielt mich auf. Es lag ein Duft in meiner Nase und das Grau des Himmels hatte eine warme Färbung. Den Duft, den kannte ich, doch woher und wie konnte es sein? – Es war ihr Duft, meine Oma war. Der Regen wollte nicht enden, ich bestieg ein Taxi, fuhr zum Friedhof und der Duft war fort. In den „Records“ fand ich seinen Namen und den einer Frau, er starb 1966, sie zehn Jahre später. Sie waren verheiratet seit 1940, vermählt in London, kurz vor dem „deutschen Blitz“. Eine seltsame Geschichte.
Eine Beschreibung seiner Persönlichkeit tauchte auf, zu danken ist sie seinem damaligen Chef, dem Architekten Austen Harrison. Er berichtet von einer Verwundung Percys während des 1.Weltkriegs und einer panischen Angst vor Menschenmassen. Seither soll er auch über Sprachstörungen geklagt haben.
Und meine Oma wurde vermisst, nachdem sie 1937 Hals über Kopf ihren Dienst bei den Pope´s quittierte. Ihre vermutete Schwangerschaft wäre in dieser liberalen Familie zwar ein Thema, aber kein Makel gewesen, berichtete mir später Elisabeth, die sich noch gut an ihre Kinderzeit mit meiner Oma erinnern konnte.
In Israel machte ich vor einigen Jahren Bekanntschaft mit einer Dame, der ich die Geschichte vom General Post Office in Jerusalem und meinem Grossvater erzählte. Tags darauf sahen wir uns wieder und sie zeigte mir den alten Dienstausweis ihres Vater aus der Mandatszeit: auch er hatte als Architekt im Public Works Department gearbeitet und man dürfte einander gekannt haben. Wie doch alles miteinander verknüpft und verwoben war, auch wenn sich bis dahin keine direkte Verbindung zu den Angehörigen von Percy Harold Winter hat herstellen lassen.
Vor wenigen Wochen nun erreichte mich eine Nachricht aus Australien. Das Foto von der offiziellen Eröffnung des Post Office 1938 in Jerusalem hatte die Aufmerksamkeit eines Lesers erregt – Jahre zuvor hatte ich es nämlich im Facebook in der Hoffnung auf einen Finder deponiert. Nun hat er sich gemeldet und es stellte sich heraus, dass er ein Grosscousin meines Grossvaters ist. Ein beglückender Moment für uns. Die Linie ist geschlossen, der Kontakt da, ein Familientreffen im Sommer steht an. Grosscousin Winter schrieb an mich und dann an uns und wir, insbesondere mein Vater, danach an ihn und seine Familie.
Mein Vater heißt Percy Harald Sturm, geboren im Verborgenen in Langenargen am Bodensee und adoptiert von seiner Mutter, aufgewachsen in Dresden, glücklich mit meiner Mutter lebend heute in Hamburg.
Michael Sturm 5. Februar 2023