Die Oase am Todesstreifen

HomeWorteDie Oase am Todesstreifen

Die Oase am Todesstreifen

Erinnerungen an die Komische Oper

Sie war einfach da, genau dort, wo sich eigentlich das Leben im Schritttempo verabschiedete, am westlichen Ende der Stadtmitte, am Brandenburger Tor, an der Mauer, am Todesstreifen. Im Frühjahr 1987. Trist war es dort, eine zementierte Stille in mattgrau, allenfalls geeignet für müde Totentänze, weil die Kraft zum Schwarz fehlte. Die DDR dämmerte ihrem Ende entgegen, doch noch nahm das niemand wahr. Wie eine Analogie dazu der Besuch in der „Betriebskantine“ des DDR-Ministerrates knapp zwei Jahre später. „Johannishof“, so hiess das Restaurant im Stile geübter Behaglichkeit mit gepflegtem Aquarium und vergilbten Gemälden, mit Fischen, die ins Leere guckten und Hirschen, die tonlos aus den Goldrahmen röhrten. Meine Augen waren geöffnet und der Geist wollte sprechen, doch die eindringliche Bitte des Gastgebers hieß schweigen über das bizarre Idyll ohne Perspektive, man wisse ja nicht, wer da noch mithöre.

Und sie war einfach da, genau dort und sie kämpfte mit ihren ureigensten Mitteln gegen dieses Drumherum: als Theater, als Musiktheater, als Komische Oper. Die Wahrheit in den Noten suchend, die Wahrhaftigkeit auf der Bühne findend, die Aussage als Ansage an das Publikum begreifend. Und das saß unten, schaute und hörte genau hin, was es zwischen den Zeilen der Bühnensprache für sich selbst zu entdecken gab und mit nach Hause genommen werden konnte, welche Chiffre sich politisch deuten ließ. Stand auf der Bühne eine unüberwindbare Wand wurde sie unweigerlich zur Mauer oder ein überdimensionierter Tisch mit ergrauten Eingeweihten als innerer Zirkel Sarastros, dann wusste der DDR-Eingeweihte, dass das Politbüro der SED nicht weit war. Die Lust am Dechiffrieren war enorm und selbst da wo es nichts zu finden gab, meinte man etwas gefunden zu haben. Die Gegenwart war aufregend genug, um auf der Bühne Antworten auf sie geben zu können und wenn es mal richtig komisch wurde, durfte noch kräftiger über sie gelacht werden. Deutbar war alles und wollte es auch sein, hintersinnig und fachgerecht verpackt.

Mitarbeiter und Gewerke waren stolz auf ihre kleine Gegenwelt und die Resonanz, die sie in der anderen Welt erfuhr, gab ihnen Kraft und ein pralles Selbstbewusstsein. Ihr Theater schrieb Theatergeschichte und mutierte zu einer quicklebendigen Weltmarke. Inszenierungen wie Kupfers Interpretation von „Orpheus und Eurydike“ gingen um die Welt und Dagmar Schellenberger und Jochen Kowalski waren die Stars als
„Sängerdarsteller“ – ein Begriff, der in der Komischen Oper geprägt wurde. Kein Konzert mehr im Kostüm, sondern ein lebendiges Schauspiel im Geiste der Partitur, später erweitert um eigene konzeptionelle Sichtweisen in einer Traditionslinie von Walter Felsenstein über Joachim Herz zu Harry Kupfer.

In Hamburgs Staatsoper sah ich Kupfers „Belsazar“. Es war das intensivste Opernerlebnis, das ich bis dahin überhaupt hatte, es haute mich um und ich weinte bitterlich. Zu der Zeit führte ich allabendlich den Buchstand und lernte einige Zuschauer kennen, die extra zum Weinen in den „Belsazar“ gingen und keine Vorstellung ausliessen. Kupfers „Belsazar“ war ein kollektiver emotionaler Ausnahmezustand, auch auf der Bühne. In einem Ghetto während des 2.Weltkriegs spielte die Handlung, wo gefangene Juden ihre Situation zwischen Hoffnung und Agonie reflektierten. Die Darstellung der Protagonisten, ob Sänger oder Chorsolist, war so intensiv und wahrhaftig, dass man den Eindruck bekam, die leidvolle Geschichte wäre deren eigene und so sprang der Funke über auf das Publikum – in der seelischen Verbindung von Mensch zu Mensch.

Bei dem, der das schuf, wollte ich lernen und so bewarb ich mich als Hospitant für Regie beim Chefregisseur der Komischen Oper, bei Harry Kupfer.

Die Komische Oper war ein internationales Haus, viele Gäste kamen aus dem Ausland, aus der sozialistischen aber auch westlichen Hemisphäre. Der amerikanische Tenor Donald George gehörte dazu, sein Lehrer war Felsenstein-Schüler und Kupfer- Bewunderer, also machte sich Donald auf nach Bayreuth, wo Kupfer gerade den Holländer inszenierte. Im Holländer-Bühnenbild gab es das Vorsingen und danach ging es weiter an die Komische Oper zur Zauberflöte und Entführung aus dem Serail – das Ziel war erreicht. Unüberwindbare Grenzen kannte man in der Behrenstraße nicht, dem Österreicher Walter Felsenstein sei dank – er setzte das durch. Und zwar zunächst einmal bei Willy Brandt, dem Regierenden von Berlin(West), denn auch der Westen unterbrach den Reisefluss am Tag des Mauerbaus am 13.August 1961. So konnten im Westen Lebende nicht zu ihrem Arbeitsplatz im Ostteil der Stadt gelangen und das betraf nun auch Felsensteins Mitarbeiterin, wohnhaft in Charlottenburg. Der leere Schreibtisch war für Felsenstein ein unhaltbarer Zustand, konnte aber schliesslich zu seinen Gunsten geklärt werden. Ähnliche Regelungen betrafen weitere Mitarbeiter der Komischen Oper. Sie blieben mit festem Wohnsitz in Westberlin und wurden anteilig in Ost und West-Mark bezahlt. Der letzte Überlebende dieser besonderen bilateralen Begebenheit war der Fechtmeister, der bis zum Schluss Felsensteins „Ritter Blaubart“ die Treue hielt. Man nannte ihn „Säbel-Emma“ und seine Aufgabe bestand darin, nicht nur die Fechtkunst in der Komischen Oper zu pflegen, sondern auch die Wünsche seiner Ostberliner Kollegen zu befriedigen. Da er an der Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Strasse, der offiziell- inoffiziellen „GÜSt“ der Komischen Oper, nicht kontrolliert wurde, brachte er vom Pornoheft bis zur Strumpfhose alles rüber, was gewünscht wurde. Das ging auch meistens gut. „Säbel-Emma“ starb im Dienst, so wie er es sich immer gewünscht hatte am Ort seiner größten Liebe, der Komischen Oper.
Es kamen auch Lehrlinge und Gesellen zu ihren Meistern, als Hospitanten so wie ich aus Hamburg zu Harry Kupfer nach Ostberlin. Man konnte sich bewerben und erhielt Antwort, schriftlich oder telefonisch, das Ziel war eine Terminvereinbarung für ein Vorsprechen beim „Meister“. Bei mir klingelte das Telefon und ich reiste an. Nun schrieb das Leben die Geschichte so, dass ich gleich am Tag der ersten Begegnung mit der Komischen Oper das „Mädchen aus Ostberlin“ kennenlernte und später bei ihr wohnte, ausgestattet mit einem Arbeitsvisum für ein Vierteljahr und dem „Blick nach drüben“ – von der anderen Seite der Grenze am Michaelkirchplatz.

Die Grenzübergangsstelle („GÜSt“) Heinrich-Heine-Strasse wurde fortan zum Hotspot meiner Reisegewohnheit, ich kannte die Zöllner und Grenzer, sie kannten mich, auch wenn sie so taten als würden sie mich immer das erste Mal sehen. Bis auf einmal, doch dazu später mehr. Ein-und Ausreise im Zweiwochen-Rhythmus, Visa und Visa-Gebühr, Zwangsumtausch, Hausbucheintrag, Begegnung mit dem Abschnittsbevollmächtigten, asthmatische Anfälle im Grenzbereich, das unbarmherzige Einrasten der stählernen Drehschranke in die Verankerung im Grenzbeton – all das ist mir bis heute im Detail präsent geblieben. 25 DM wurden zu 25 Mark der DDR und die wiederum zu Klavierauszügen der Edition Peters, die ich in regelmäßiger Menge an meine Kommilitonen in Hamburg weiterverkaufte. Rainer, Hajo, Dagmar, Christian, sie und noch weitere waren die Profiteure und subventionierten gleichzeitig meine Besuche in Ostberlin. Vielen Dank nachträglich dafür, denn so lernte ich auch alle Bühnen Ostberlins kennen, darunter die Lindenoper mit Ruth Berghaus als Handschrift. Welch eine Zeit!
Er war eine Mischung aus Löwenbändiger und Jürgen Klopp an der Seitenlinie – Harry Kupfer bei einer Chorprobe im Probensaal. Seine Feldspieler, denen er sein Feuer gab, die Chorsolisten der Komischen Oper, nannte er „Meisters“. Er dressierte und dirigierte sie lautstark, mit kurzen klaren Anweisungen, dabei meist stehend oder aufrecht sitzend auf seinem „Sitztisch“, immer ganz nah an seinem Spielfeldrand. Wenn er sagte „das war nicht schlecht!“, war es ein Kompliment, ein Ansporn, eine Aufforderung dran zu bleiben mit Körper und Geist, um „die Choreographie“ in die Körper zu bekommen. Die Worte, die er wählte waren treffsicher auf den Punkt, eindringlich und auf Spannung getrimmt, um die Kollegen des Chores in Spannung zu halten, Stillstand und Langeweile waren ihm verhasst. Respektvoll war sein Umgang, er kannte sie alle beim Namen, er kämpfte mit Leidenschaft und Kontrolle und er wusste dabei immer, was er genau wollte und wie er es erreichen konnte. Er war ein Verführer, aber ohne böse Absicht, ein Besessener. Die Dinge, die er zu erzählen hatte, mussten erzählt werden – eine tiefe innere Angelegenheit war es, die in ihm brodelte und abgearbeitet werden musste. Aus dem Leben geschöpft, mit den Noten und ihrer Geschichte verknüpft, zur eigenen Sprache gebracht. Knieschoner waren obligatorisch, Chorproben gleich Solistenproben und jede Note ein Impuls für den singenden Darsteller. Die Achtung aller war ihm gewiss, langjährige Weggefährten wie Jochen Kowalski siezten ihn bis zum Schluss. Und ich hätte gar nicht damit umgehen können „Harry“ zu sagen, auch wenn er es mir angeboten hätte. Vielleicht auch deshalb, weil er die letzte Distanz eben doch brauchte.

Während der „Meister“ vor dem Tisch oder auf dem Sitztisch wirbelte, saß dahinter das Kolleg der treibenden Kräfte, damals in folgender Aufstellung: links aussen der Chefdirigent Rolf Reuter, daneben Eberhard Schmidt als Dramaturg, gefolgt von Rudi Meyer dem Inspizienten, den Assistenten Teichmann und Brandt, die Souffleuse auf rechts aussen. Auf der Ersatzbank sitzend die Riege der Hospitanten aus den sozialistischen und kapitalistischen Ländern, immer bereit zur Einwechslung.

Einen Dramaturgen, der ihm das Stück erklärte, brauchte Kupfer, wie er sagte, nicht, jedoch einen, der die Konzeptionen geschickt durch alle parteipolitischen Gremien zu lancieren wusste, um ihm den Rücken für die Kunst freizuhalten. Eine Abnahmekommission oder etwas vergleichbares gab es nicht, derartiges wäre auch nicht nötig gewesen, arbeiteten die Sachwalter der Konzeption doch sehr transparent und ohne doppelten Boden mit allen zusammen, die alles über Stück und Lesart wissen mussten, sollten und wollten. Die Dramaturgie hatte generell ein grosses Gewicht und das schon seit Felsensteins Zeiten. Sie war der musikwissenschaftliche Thinktank des Hauses, der massgeblich das gesamte Berufsfeld des heutigen Dramaturgen prägen sollte. Hier wurden die Werke bis in kleinsten Teile zerlegt und untersucht, um sie anschliessend mithilfe des Regisseurs wieder zusammenschrauben zu lassen. Wäre es ein Auto, dann mit einem Reifenwechsel inklusive, mit getuntem Motor und neuen Farben im Design der Zeit. Motor blieb dabei Motor und gefahren wurde auch weiterhin auf vier Rädern. Da alle Werke in der Komischen Oper in deutscher Sprache aufgeführt wurden, mussten entsprechende Übersetzungen her und die wurden im Hause erstellt. Felsensteins Figaro-Übersetzung ist legendär, ebenso die der Butterfly von Joachim Herz und Klaus Schlegel.
Reuter und Kupfer pflegten ein kollegiales Sie, man sprach sich, wenn man überhaupt miteinander sprach, zuweilen auch als „Herr Professor“ an – mal mit mehr, mal mit weniger Ironie, doch immerhin durch die Tatsache bestimmt, dass beide auch entsprechende Titelträger waren; in der Vergangenheit musste es einmal gekracht haben. Und dann noch Rudi Meyer, der Inspizient schlechthin. Die Bühne war seine Berufung, dafür lebte er und seinen Herrschaftsbereich, den verteidigte er kompromisslos, gerne auch mal schrullig und mit spitzen Worten. Nachfragen von Sängern, was den nächsten Auftritt anging, beantwortete er schon mal mit „Stören Sie nicht, ich habe Vorstellung!“ Die Ruhe verlor er nie, die Zuverlässigkeit war er in Person und wenn es mal auf Gastspielreise ging – die Komische Oper war einst oft unterwegs in der Welt – war er der organisatorische Fels in der auswärtigen Brandung. Stichwort „Fels“ – seine Enzyklopädie an Anekdoten aus der Felsenstein-Zeit war legendär. Er konnte den Meister so grossartig imitieren, dass manche den Eindruck hatten, der „Felsi“, wie er ihn nannte, wäre leibhaftig ins Theater zurückgekehrt. E.T.A Hoffmann hätte seine helle Freude an dieser grossen Theaterseele gehabt. Die Assistenten der Komischen Oper waren Institutionen, die es meisterlich verstanden die Aufführungen auf Premierenniveau zu halten. Sie werteten Vorstellungen aus und setzten Proben an, wenn ihrer Meinung nach die Qualität der Routine zum Oper fiel, ihre Regiebücher waren wie Lexika und die Köpfe überquellende Vorratsdatenspeicher. Vorstellungsberichte wurde nie durch Kumpanei geschönt, zumindest bei denen, die ich kannte, sie waren fokussiert und unbestechlich und fühlten sich wie Sachwalter einer fast schon „heiligen Sache“. Einzigartig!

Ich arbeitete brav mit, kam später in den Genuss die Pausen im ruhigen Nebenraum der Kantine mit Kupfer und den treibenden Kräften teilen zu dürfen und verdiente zu meiner großen Überraschung das erstes Geld am Theater. Eingeplant war es nicht, doch meine Mitwirkung wurde bemerkt und meine Funktion damit hochgestuft. Es mögen wohl 600 Mark der DDR gewesen sein und die mussten im Glücksgefühl des Momentes zügig verprasst werden. Prompt ging ich ins Centrum Warenhaus am Alex und kaufte einen original „Automatik AKA-Elektronik Toaster“, made in GDR – so einer fehlte in der Wohnung beim „Mädchen aus Ostberlin“. Ausgepackt und aufgestellt, runtergedrückt und peng – schon war er hin. Warum ich mir diese Geschichte bis heute merken konnte ist dem Umstand geschuldet, dass ich den Toaster umzutauschen versuchte. „Umtauschen? Ja, wat´n?. Nö, hamse wohl kaputt jemacht, is nich.“ Ich stand vor der Verkaufskraft wie ein Schuljunge, der die Pausenmilch im Klassenzimmer verschüttet hat. Was ich antwortete, weiß ich nicht mehr, nur noch, dass der Umtausch schliesslich glückte. „Na jut, ick je ma ins Laga, wa“. Sie ging ohne peng, kam zürck mit einem neuen Toaster und das nach weniger als einer knappen Stunde.

Die Hospitanten-Riege war bunt gemischt, sie kamen aus Stendal, Bratislava, Ostberlin und einer irgendwo aus Holland. Der Ostberliner wurde zum guten Kumpel, wir teilten die Leidenschaft für das Musiktheater der Komischen Oper und machten überhaupt viel zusammen. Im Wald von Wandlitz nahm er Fahrunterricht in meinem roten Westauto, ich probierte mich später auf der Karl-Marx-Alle im gletscherblauen Trabant, mit weitaus weniger Erfolg, ich scheiterte an der Gangschaltung.
Nach dem Besuch im Restaurant Johannishof verschwand er abrupt von der Bildfläche, vielleicht hatte er auch nur seine Arbeit getan. Wie andere auch.
„Giustino“ und „La Boheme“ genossen Kultstatus, Eintrittskarten wurden zur „Bückware“. Selbst zeitgenössische Opern wie „Judith“ von Siegfried Matthus waren Renner im Repertoire, Haseleu und Bundschuh die Stars der vielen ausverkauften Abende. Das westdeutsche Abonnement, kurz Abo, hiess im Osten Anrecht. Das Wort klang für mich trotzig und rechthaberisch, es verband sich damit aber auch ein schöner Hintersinn. Liest man doch darin vom Recht auf etwas, vom Recht an Kultur, das der Mensch einfordert, um es vom Staat zu bekommen. Die DDR war finanziell ein klammer Staat, gerade in ihrer Endphase, woran aber nicht gespart wurde, war die Kultur. Die Dichte an Kulturinstitutionen und die Summe der staatlichen Subventionen war um einiges höher als im damaligen Westdeutschland, von heute ganz zu schweigen. Die Kultur war ein Teil des sozialistisch-humanistischen Weltbildes und dazu gehörte, dass auch der Arbeiter eines Kombinates ins Theater, ins Museum, in den Konzertsaal entsendet wurde, um Kulturluft zu schnuppern. Wer partout nicht wollte, fand immer ein Schlupfloch sich der Kulturgewalt zu entziehen, doch viele, sehr viele kamen – und sprachen mit. So begegneten sich in der Komischen Oper alle Bildungsschichten, sie war nicht elitär oder ausgrenzend, schon gar nicht durch hohe Eintrittspreise. Sie war in gewisser Weise ein Volkstheater, in das man gerne ging, um „mitreden“ zu können. Und das in einer Sprache, die verstanden wurde. In der damaligen Lindenoper war eher der Staatsakt angesagt und die weit weniger volkstümliche Ästhetik der Ruth Berghaus. Elitär ging es aber auch dort nicht zu.

Ich wohnte und studierte in Hamburg und fuhr oft nach drüben, wenn die Einladung aus Ostberlin rechtzeitig eintraf. Eines Tages sagte meine Mutter, dass sie sich einen neuen Kühlschrank zulegen wolle und den alten, sehr gut gepflegten, könne ich ja dem
„Mädchen in Ostberlin“ mitbringen, die hätte ja keinen. Ich hielt die Idee für nicht durchführbar, denn gebrauchte Güter durften nicht in die DDR eingeführt werden. Dennoch erzählte ich davon im kleinen Ostberliner Kreise und dann hiess es „Micha, warte mal!“ Einige Wochen später schraubte ich dann in Hamburg den Beifahrersitz meines roten Ford Fiesta heraus und ersetzte ihn durch den besagten Kühlschrank, mit dem es dann als Beifahrer auf die Transitstrecke ging, von Zarrentin nach Westberlin bei erlaubtem Tempo 100. Dort angekommen, eine Wurst auf dem Ku’damm und weiter zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Strasse. Zur verabredeten Zeit rollte ich in die Grenzanlage ein, die Anspannung war gross und der Druck auf der Blase enorm. Ich stand da und wartete, diesmal aber gar nicht lange. Wie ein Staatsgast wurde ich empfangen, Grenzer und Zöllner hüpften um den Ford herum, machten hier und da kleine Scherze, so auch den, dass sie gerne doch einmal mit ihrer langen Plastiknadel in meinem Tank herumstochern würden, ich würde das ja schon kennen. Gefragt, getan. Wie alte Bekannte verabschiedete man sich voneinander – ein einmaliges Erlebnis. Danach um die Ecke gebogen, am Michaelkirchplatz geparkt und den Kühlschrank in die Wohnung mit dem „Blick nach drüben“ geschleppt. Später hörte ich, dass die Aktion eine Flasche schottischem Whiskys gekostet habe und „der Partisan“, alles mit seinem Trinkkumpan vom Zoll verabredet hatte, dem „GÜSt“-Kommandanten Genosse Hettfleisch. „Der Partisan“ war Dirigent und Freund der Mutter des „Mädchens aus Ostberlin“. Er war später auch der Gastgeber im Restaurant Johannishof, bevor es zur Ausreise ging.
Wochen später wurde im Büro des Intendanten Rackwitz in einer Ostberliner Zeitung geblättert. Von der „Chinesischen Lösung“ war die Rede, im Juni 1989. Sorgenvoll waren die Blicke und Worte wurden wenige gewechselt. Eine Zeitenwende lag in der Luft, doch die Windrichtung war nicht klar. Wenige Monate später hörte die DDR auf zu existieren, ihr Atem wurde schwach und schwächer. Der Todesstreifen verschwand und die Oase ging auf in „blühende Landschaften“. Eine andere Zeit brach an.

Jede Kunst ist ein Zeitbild und sie lebt von steten Wechseln, von Brüchen und Aufbrüchen. Dinge entwickeln sich oft gleichnishaft. Einmal, so Kupfer, stand bei den Proben zu den Meistersingern eine Bank am falschen Platz und der Chor spielte nicht weiter. Er fragte, warum sie die Szene unterbrochen hätten. Sie entgegneten, dass ihnen niemand erlaubt habe die Bank wegzutragen. Von da an nahm man das Schicksal der Bank selbst in die Hand und in der Zeit danach wurde sie durch eine neue ersetzt.

Sie ist einfach da, genau dort, wo die Gegenwart ihre Geschichten erzählt. Am Ausgang der Komischen Oper nehme ich mir ein Schokoladenpraline, drehe mich noch einmal um und lächle.